Vom Lassen
Wie mich der Winter und ein Zitat zu einer ungewöhnlichen Fastenkur inspirierten
Mit Beginn der Fastenzeit stellt sich wieder die Frage: Worauf kann ich sieben Wochen lang verzichten? Süßigkeiten, Nikotin, Alkohol? Medien-, Handy- oder Plastikkonsum? Inspiriert von der Natur und dem folgenden Zitat von Ernst Ferstl habe ich mich in diesem Jahr für eine etwas andere Fastenkur entschieden: einen Kurs im Lassen.
„Die Kunst eines erfüllten Lebens ist die Kunst des Lassens: Zulassen – Weglassen – Loslassen“
Ernst Ferstl
Zulassen: annehmen, was (nicht zu ändern) ist
In unserem Leben gibt es immer wieder Dinge, die nicht oder nur sehr bedingt in unseren Händen liegen – und eine der sieben Fichten, die mein Vater im Garten gepflanzt hatte, noch bevor ich auf die Welt kam, zählt definitv dazu. Sie hielt einem der heftigen Herbststürme 2017 nicht stand und fiel eines Nachts laut krachend durch den Zaun aufs Nachbargrundstück. Dort hinterließ sie zwar nur einen überschaubaren Sachschaden, sorgte jedoch für Angst bei den Anwohnern und Ärger bei mir. Schließlich hatte ich schon einige Wochen zuvor einen Fachbetrieb angefragt, der die Lage einschätzen sollte. Doch alle Mitarbeiter waren mit größeren Sturmschäden beschäftigt. Und so kam es, wie es kam: Der Baum fiel, und ich konnte nichts daran ändern.
Mir blieb nur, die Dinge so anzunehmen, wie sie waren. Radikale Akzeptanz nennt das die Psychologie, die sich das Konzept aus dem Zen-Buddhismus geliehen hat. Es ist das Loslassen von Kampf und Auflehnung, die Bereitschaft, etwas anzunehmen, das ohnehin nicht mehr zu ändern ist. Unangenehme Ereignisse oder Gefühle zu akzeptieren kann schmerzhaft sein, gehört aber nunmal zum Leben dazu. Besonders spannend wird es aber, wenn wir auch etwas Schönes zulassen „müssen“. Wir Menschen sind ja ganz gut darin, unnötig kompliziert zu sein und uns auch von Dingen abzuschotten, die uns eigentlich gut tun – aus Angst, wir könnten es wieder verlieren. Die Natur kennt diese sich selbst hemmende Denkweise nicht. Sie ist immer im Moment, folgt Schritt für Schritt den Lebensbedingungen, wie sie gerade sind. Nehmen wir die Fichte zum Vorbild: Sie ist gewachsen, hat über ihr Wurzelwerk Halt gefunden und ihre Nachbarinnen versorgt, obwohl sie irgendwann (in diesem Fall leider früher) wieder Platz für Neues machen musste. Gerade weil unser Leben endlich ist, will auch das Zarte, Schöne, Verbindende (und deshalb vielleicht so gefährlich Wirkende) zugelassen werden, denn sonst leben wir das Leben nur halb. Well… Challenge accepted!
Weglassen: aufs Wesentliche konzentrieren
Auch das macht uns die Natur gerade vor. Im Winter bzw. dem gerade einsetzenden Vorfrühling gibt es in ihr nichts, was überflüssig wäre. Alle Pflanzen sind auf ihre pure Essenz reduziert und warten geduldig, bis Temperatur-, Licht- und Nährstoffbedingungen stimmen, um wieder auszutreiben. Die Natur macht sich im Winter sozusagen leer, um im Frühjahr wieder Neues wachsen zu lassen. Dieser ewige Kreislauf tut auch uns gut – selbst wenn die Leere anfangs etwas beängstigend erscheinen mag. Eine Freundin hat mich mal auf dem Land besucht und ist mitten in der Nacht davon wach geworden, dass sie draußen rein gar nichts hören konnte. Sie musste erst einmal ein paar tiefe Atemzüge nehmen, um sicherzustellen, dass sie wirklich noch am Leben war. Das Weglassen oder Leermachen ist also die Abwesenheit von Ablenkungen, und die ist uns heute seltsam unbekannt. Im Alltag hasten wir oft von einem Termin zum nächsten, häufen die tollsten Reiseziele an, kaufen dieses und jenes und lassen nebenbei den Fernseher laufen. Das alles tun wir nicht ausschließlich, weil es notwendig oder sinnstiftend wäre – oft versuchen wir, uns damit von etwas Wesentlicherem abzulenken. Diese Konsumhaltung ist sozusagen der Kunstrasen unserer Persönlichkeitsentwicklung. Wir geben vor, es würde etwas wachsen, doch in Wahrheit überdecken wir nur unsere eigentlichen Bedürfnisse.
Das Weglassen wählt den entgegengesetzten Weg: Wer sich aufs Wesentliche reduziert, entledigt sich aller überflüssigen Dinge – und findet dadurch so viel mehr! Denn in der Leere kann man sich ehrlich fragen, was man zum Leben wirklich braucht. So kommen wir unseren Bedürfnissen mehr und mehr auf die Spur, anstatt sie zu überdecken. Ich habe in den vergangenen Jahren viel ausgemistet, Job, zentrale Altbauwohnung und Dauerfreizeitangebot in Berlin gegen ein Leben auf dem Land eingetauscht – mit Ruhe, Weite und Kleinstkulturangebot. Ich habe fast alle Möbel, Kleidung, Bücher und viele Kleinigkeiten vor meinem Umzug verkauft oder verschenkt und bin nun mit ziemlich leichtem Gepäck unterwegs. In dieser Zeit des Neuanfangs wurde mir bewusst, was ich alles nicht brauche. Und dass die Dinge, die ich in meinem Leben will, sehr selten Dinge sind. Das heißt nicht unbedingt, dass diese Bedürfnisse leicht zu erfüllen sind. Aber ich bin mir ihrer wesentlich bewusster als in früheren Zeiten – und Erkenntnis ist ja bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Also beobachte ich mein Konsumverhalten noch ein bisschen weiter, werfe einen Blick auf die dahinterliegenden Bedürfnisse und finde ja vielleicht ein paar Wegweiser, wo ich sie erfüllen kann!
Loslassen: If you love somebody, set them free
Das Loslassen ist wohl die Königsdisziplin des Lassens. Wir alle müssen sie meistern – ob wir wollen oder nicht. Sei es, weil eine Freundschaft zerbricht, ein geliebter Mensch stirbt oder ein Lebensplan nicht aufgeht. Loslassen heißt nicht, vorschnell aufzugeben. Doch wenn wir versuchen, uns an etwas festzuklammern, das nicht zu halten ist, wird daraus großes Leid. Denn so hemmen wir den natürlichen Fluss des Lebens, in dem sich alles immerzu verändert. Es geht also um den richtigen Moment, an dem das Festhalten mehr Leid verursachen würde als das Gehenlassen. Wie vermutlich jeder von uns habe ich in meinem Leben schon viele Wünsche, Ideen und auch Menschen loslassen müssen – und einiges davon viel zu spät. Ich merke: Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl dafür, was noch gehalten werden will und was nicht. Natürlich überkommen mich manchmal auch Trauer oder Wehmut, wenn ich an besonders schöne Situationen oder an Menschen zurückdenke, die nicht mehr Teil meines derzeitigen Lebens sind. Doch dann wird mir klar, dass wir kein Anrecht darauf haben, dass alles immer so bleibt, wie wir es gern hätten, denn alles ist vergänglich.
Vielleicht sollten wir es ein bisschen mehr so machen wie die Menschen im Bhutan: Sie meditieren mehrmals täglich über ihre Sterblichkeit – und gelten vielleicht auch deshalb als das glücklichste Volk der Welt. Ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit zu entwickeln, klingt für uns erst einmal abschreckend, denn wir bringen uns vor den Themen Tod und Vergänglichkeit doch lieber in Sicherheit. Doch wer die Tatsache, dass alles Leben irgendwann endet, konsequent verdrängt, wird notgedrungen böse überrascht. Die Erkenntnis, dass alles vorübergehender Natur ist und wir daher alles irgendwann loslassen müssen, kann hingegen eine klare und auch dankbare Haltung gegenüber dem Leben bewirken. Und manchmal ist es ja auch ganz beruhigend zu wissen, dass alles nur eine Phase ist.
Es gibt ein schönes Bild für die Kunst des Loslassens: Stell Dir vor, Du hälst etwas Zerbrechliches in der Hand, zum Beispiel ein Vogelei. Strecke es vor Dir aus, und dann lasse los. Was passiert? Intuitiv würden wir denken, dass das Ei zu Boden fällt und zerbricht. Es gibt aber einen Trick: Wenn Du die Handfläche nach oben drehst, kannst Du das Ei loslassen, ohne es fallen zu lassen. Die Kunst des Loslassens ist also nicht zerstörerisch, sondern befreiend – für alle. Sie schafft Platz für Bestehendes, kann von altem Schmerz, einer Last oder einer vorgefertigten Meinung erlösen, wie etwas oder jemand zu sein hat. Und sie kann den Boden bereiten, auf dem schließlich Neues wächst.
Ich bin gespannt, wie und wo sich in den kommenden sieben Wochen überall Lektionen zum Zu-, Weg- und Loslassen auftun werden. Folgt mir gern auf Facebook und Instagram für Updates und hinterlasst auch Eure Fastenideen in den Kommentaren. Happy mindful fasting!