
FRÜHLING: NO MUD, NO LOTUS.
Warum ausgerechnet der Umgang mit unserem Schmerz glücklich macht (und was der Frühling damit zu tun hat).
Na toll. Seit Wochen fiebere ich darauf hin, dass endlich der Frühling beginnt. In diesem Jahr scheint er besonders lange auf sich warten zu lassen – allerdings meint man das vermutlich in jedem Winter und vergisst es nur im Laufe der Monate wieder. Eine Art Jahreszeitendemenz. Seit ein paar Tagen jedenfalls ist mein Sehnen nach Wärme, Farben und Düften geradezu körperlich und ich sauge jeden Hinweis auf, der mir ihre baldige Ankunft verrät. Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen etwa, die wie riesige, sanfte Fingerspitzen die Natur berühren und sie aus der Winterstarre wecken. Streifen sie unsere Wangen oder legen sich warm in unsere Rücken, werden auch wir weicher und leichter, außen wie innen. Und ausgerechnet jetzt, da die Sonne mich schon um sieben Uhr morgens begrüßt und erste Knospen aufspringen lässt, ausgerechnet jetzt liege ich flach. Na toll.
Eigentlich ist es eine Lappalie, die mich seit gestern in die Waagerechte zwingt: eine Mini-OP am Bein. Mit den daraus resultierenden Schmerzen und der Tatsache, für einige Tage nicht wirklich laufen zu können, hatte ich allerdings nicht gerechnet. Und so liege ich auf der Couch und ärgere mich ein bisschen, vor allem über mich selbst. Weil ich nur bis zum Tag X gedacht hatte und nicht ans Danach. Weil ich offenbar weniger schmerzresistent bin als gehofft. Und weil mal wieder ein Stolperstein in meinem Weg liegt, den zu überspringen ich im Moment einfach nicht in der Lage bin. All das passt so gar nicht in mein aktuelles Bild von meinem Leben, schließlich starte ich gerade durch und will mit dem Wiedererwachen der Natur auch beruflich neue Wege gehen. Inmitten dieses kleinen, nagenden Ärgers taucht ein Satz in mir auf, über den der Zen-Meister Thich Nhat Hanh ein ganzes Buch geschrieben hat: „No mud, no lotus.“ In Achtsamkeitskreisen wird er gern zitiert, wenn’s Hart auf Hart kommt. Doch was genau bringt er zum Ausdruck? Und wie bringt er mich in meiner Beinmisere weiter?
Welcher Schlamm? Welcher Lotus?
Für ungeübte Zuhörer mögen Nhat Hanhs Aussprüche fremd oder naiv klingen. Bei näherer Betrachtung liegt aber gerade in der Einfachheit ihrer Sprache Tiefe und Weisheit. Das Bild der Lotusblüte geht auf ein altes buddhistisches Gleichnis zurück. Darin heißt es, dass die Lotuspflanze unter der Wasseroberfläche zu wachsen beginnt. Tief unten, im Schlick des Sees treibt sie Wurzeln und lässt ihren Keim gedeihen, wird größer und größer, erreicht die Wasseroberfläche und wächst sogar über sie hinaus. Im Sonnenschein erblüht schließlich die wunderschöne Lotusblüte, an deren Blättern bekanntlich aller Schmutz abperlt. Hier oben erinnert nichts daran, was unter Wasser geschieht. Doch ohne den Schlamm, in dem die Wurzeln Halt und Nahrung finden, gäbe es die Blüte nicht.
In diesem botanischen Gleichnis (die Buddhisten bedienen sich übrigens gern mal bei der Natur) kann man sich durchaus wiederfinden. Dabei spielt es keine Rolle, ob man Buddhas Lehre folgt oder nicht. Wir alle kennen schließlich Situationen, die sich anfühlen wie zäher, fieser Schlamm. Ob wir nun mit lädiertem Bein auf der Couch liegen, in einer festgefahrenen Beziehung oder einer Jobsackgasse stecken, von übergroßen Forderungen oder der Angst um das Weltgeschehen gelähmt werden: Wir stecken fest. Und das fühlt sich schrecklich an, weil es keine Bewegung zuzulassen und den Atem abzuschnüren scheint. Egal, wie sehr wir auch strampeln, unsere Füße stecken im Schlick und wir drohen zu ertrinken.
Zeit für eine neue Strategie
Das tut weh, denn es macht uns zum Opfer. Um dem Schmerz zu entkommen, greifen wir manchmal zum Nächstbesten: wahllos Shoppen, Fernsehen oder im Netz surfen, ein Fläschchen Wein trinken, maßlos und ungesund essen, Urlaube oder andere kleine Fluchten aneinanderreihen… die Liste ist endlos und hochindividuell. All diesen Strategien ist gemein, dass sie den Schmerz zwar kurzfristig betäuben können, auf lange Sicht aber völlig nutzlos sind. Lässt die Wirkung nach, geht es uns so schlecht wie zuvor oder sogar schlechter. Denn solange wir vor dem Schmerz davonlaufen oder ihn nur betäuben, wird er nie ganz verschwinden. Oder, um im Bild zu bleiben: Wer auf Schlamm flüchten oder ihn ignorieren will, sinkt nur tiefer in ihn hinein.
Es wird also Zeit für eine neue Strategie, und die heißt „Wachsen“. Wir haben nämlich durchaus die Wahl. Wir können den Schlamm als etwas betrachten, das uns gefangen hält, oder aber als nahrhaften Boden, in dem wir Wurzeln schlagen können. Das erscheint zunächst paradox. Doch unser Schlamm, pardon: Schmerz, ist nicht per se etwas Schlechtes, das einfach nur „weg“ soll. Er hat immer eine Botschaft an uns, und die kann eine Basis sein, auf der wir weiter wachsen. Dafür braucht es allerdings etwas Mut und einen Perspektivwechsel. Statt weg- könnten wir ja mal genauer hinsehen und dadurch verstehen lernen. Warum stecke ich in dieser Beziehung fest? Warum stört es mich so, ein paar Tage zum „Nichtstun“ verdammt zu sein? Welche Botschaft hat meine Angst für mich? Tiefes Schauen nennt das Thich Nhat Hanh, und für ihn ist es ein Weg zum Glück.
Den Achtsamkeitsmuskel trainieren
Der achtsame Umgang mit unserem Schmerz ist gewissermaßen das Gegenteil vom einseitigen Dogma des positiven Denkens. Hier geht es nicht ums Schöndenken oder -reden. Genauer hinzusehen lehrt uns, wie etwas ist und warum es so ist. Es lehrt uns, uns von dem Schmerz (der Angst, Wut, Trauer, Verletztheit, Scham…) nicht ab-, sondern uns ihnen zuzuwenden, sie wahrzunehmen – offen, liebevoll, neugierig und ohne uns von ihnen überwältigen zu lassen. Dies kann aus dem Scheinriesen Schmerz einen ganz normalen Teil unseres Lebens machen und uns aus der Opferrolle holen. Denn auf diese Art können wir den Schmerz schlussendlich sogar in etwas Produktives verwandeln. Vielleicht nicht von heute auf morgen. Aber mit etwas Training entwickeln wir nach und nach eine gesunde a.k.a. (selbst-) liebende und wertschätzende Haltung.
Meine kleine OP und ihre Nachwirkungen haben also auch ihr Gutes. Auf der einen Seite schenken sie mir unverhoffte Zeit, die ich dazu nutzen kann, diesen Beitrag zu verfassen und damit meinen Blog einzuweihen (Yay!). Sie dienen mir außerdem als Erinnerung an das große und bisher ungefeiert gebliebene Glück, dass mein Körper ansonsten noch relativ unversehrt ist (Doppelyay!!). Und sie lehren mich, dass der Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt durchaus Wellen schlagen darf und ich das Recht habe, neben dem äußerlichen auch Abschiedsschmerz und Ungewissheit angesichts des Neuen zu empfinden. Und so verweile ich noch ein bisschen auf der Couch in diesem Unterwasserland, betrachte den Samen meiner neuen Erkenntnis im Matsch stecken und freue mich auf die Triebe, die aus ihm wachsen werden. In meinem ganz persönlichen Frühling, der einfach mal schon heute beginnt.
Wow, genau auf den Punkt!
Danke! Wofür ein bisschen Schmerz doch gut ist 😉