SOMMER: DER RAUM ZWISCHEN DEN BLÄTTERN
Ein Plädoyer und eine Naturübung für mehr Dazwischen
„Schon komisch, wie unsere Wahrnehmung funktioniert“, denke ich, als ich aus dem Fenster blicke. Dort steht ein Sonnenschirm auf der Terrasse und trocknet sich das nächtliche Unwetter aus den Flügeln, etwas weiter hinten der Gartenzaun und ein paar Fichten auf dem Nachbargrundstück, die ihre Kronen gen Himmel recken. Natürlich ist da draußen noch viel mehr. Wind zum Beispiel, der die Wipfel wiegt, Sonne, Wolken, Vögel und ihr Zwischterkonzert, auf Erdbeerpflanzen landende Bienen, diverse weitere Pflanzen, Krabbeltiere, Luft, Zeit, Raum… ganz viel von dem, was einfach da ist, ohne dass ich es bewusst wahrnehme. Vielleicht, weil es immer oder zumindest ziemlich oft da ist. Und, weil der klatschnasse Sonnenschirm, der streng geometrische Zaun und das wogende Fichtenseptett wesentlich prägnanter sind als der ganze, etwas unscheinbare Rest.
Diese Vermutung liegt nahe, denn im übrigen Leben funktioniert unsere Wahrnehmung meistens genauso selektiv. Wir identifizieren uns mit der Form im Vordergrund, fokussieren auf das, was am deutlichsten hervorsticht. Die Traumwohnung etwa, die so viel schöner ist als unsere jetzige, das tolle Kleid, das die Kollegin neulich anhatte, oder den Job, den wir so sehr wollen, weil der derzeitige irgendwie nicht mehr passt. Oft fallen uns auch die Dinge auf, die wehtun. Das Unkraut im Garten, die mehr oder weniger frische Trennung oder diese unterschwellige Angst, alles, was wir haben, zu verlieren. Gegen diese Dinge, die aus der Masse überdeutlich herausstechen, weil wir sie dringend ersehnen oder mindestens so dringend wieder loswerden wollen, verblasst der ganze Rest. Wären wir eine Kamera, hätten wir ein einziges Motiv in extremer Nahaufnahme fokussiert und ließen die Umgebung in Unschärfe verschwimmen.
Das Über-Ding und das Begehren
Grundsätzlich ist ein bisschen Fokus ja gar nicht schlecht. Dank seiner Existenz können wir unsere Aufgaben nach Wichtigkeit und Dringlichkeit sortieren und mit dem effektiven Abarbeiten beginnen. Wo kein Fokus, da kein Ziel – könnte man zumindest meinen. Fragt man allerdings einen Bogenschützen, wie er es schafft, mit dem Pfeil genau in die goldene Mitte der Zielscheibe zu treffen, bekommt man mit hoher Wahrscheinlichkeit eine andere Antwort. Natürlich hat auch er das Ziel vor Augen. Seine Aufmerksamkeit aber richtet er auf etwas ganz anderes, nämlich auf seinen Bewegungsablauf hin zum Schuss: Rückenspannung aufbauen, halten und schließlich die Zughand von der gespannten Sehne lösen. Wer im Moment des Schusses hingegen nur auf das Ziel fokussiert, wird es mit einiger Sicherheit verfehlen oder die Hand gar nicht erst lösen können, weil er innerlich blockiert. Goldangst heißt dieses paradoxe wie gefürchtete Phänomen.
Für unser Leben bedeutet das, dass auch hier die ausschließliche Konzentration auf eines dieser Über-Dinge unseren Geist blockieren kann. Wir werden starr vom ewigen Starren. Blöd aber auch, dass sich diese Objekte der Begierde immer wieder in den Vordergrund drängen! Das suchen wir uns ja nicht selbst aus, oder? Die Antwort der Bogenschützen hierauf ist klar (hust!), die von Buddha ist erstaunlich ähnlich. Er lehrte, dass unser Leid vom Begehren stammt. Wir wollen einfach alles so schön haben wie möglich – und wer könnte es uns verdenken? Doch je mehr wir das Schöne ersehnen oder festhalten wollen, umso mehr verzerrt es unsere Wahrnehmung. Ohne die Traumwohnung ist unser Leben plötzlich nur noch halb so schön, das Bisschen vermeintliche Unkraut verschandelt den ganzen Garten, der Verlust eines geliebten Menschen überschattet alles, denn jede Straßenecke erzählt Geschichten von schöneren Tagen, die im Rückblick umso quälender erscheinen. Vor lauter Es-schön-haben-Wollen verdrängen wir, dass das Unschöne und alles dazwischen ebenfalls zum Leben gehören und alles sich ohnehin stetig wandelt und niemals bleibt.
Das Dazwischen neu sehen lernen
Was also tun? Wir könnten von den Bogenschützen lernen und etwas weniger auf das fokussieren, was wir ersehnen, um (es) schließlich loszulassen. Damit meine ich nicht, Ziele oder Sehnsüchte zu verdrängen. Das würde, da sind sich Bogensportler, Buddha und auch Freud sehr einig, nur noch mehr Leid erzeugen. Es geht vielmehr darum, diesem einen, übergroßen Objekt der Begierde seinen Platz inmitten all der anderen Dinge unseres Lebens zuzuweisen. Nicht das Ding an sich erzeugt nämlich unser Leid, sondern unsere Haltung dazu, und daran können wir etwas ändern. Zum Beispiel, indem wir unsere Bewegungsabläufe im Moment des Bogenschusses wahrnehmen, anstatt uns auf das Ziel zu versteifen. Oder, um die Metapher der Kamera wieder aufzunehmen: indem wir rauszoomen, einen größeren Bildausschnitt wählen und all das betrachten, was sich unter, über, hinter, vor und neben dem Objekt befindet, das uns so sehr ins Auge fällt.
Eine einfache und sehr schöne Übung, mit der wir das Dazwischen und das Rundherum neu wahrnehmen lernen können, ist die Naturmeditation Der Raum zwischen den Blättern. Als ich neulich mit einer Gruppe durch den Wald zog, nahmen wir uns etwa eine halbe Stunde Zeit, um seine Zwischenräume zu erkunden. Was ist los zwischen den einzelnen Stämmen, zwischen Baum und Borke, zwischen einem Blatt und dem anderen? Was passiert zwischen zwei Regenschauern, zwei Vogelrufen, zwei Atemzügen, zwischen einem Lebensabschnitt und dem nächsten? Denn Zwischenräume existieren nicht nur draußen in der Natur, sondern natürlich auch in uns. Am deutlichsten nehmen wir sie an den Brüchen und Übergängen zu neuen Lebensphasen wahr, wenn das Alte vergangen ist, das Neue aber noch nicht wirklich begonnen hat. Doch es gibt viele weitere Lebenszwischenräume – zwischen Gedanken, Worten bis hin zu den winzigen Pausen zwischen jedem unserer Atemzüge.
Die Natur hilft uns, diese Zwischenräume außen und innen wiederzuentdecken. Durch das achtsame Wahrnehmen der vermeintlichen Leerstellen verändern wir zuerst unsere Wahrnehmung (weg vom Über-Ding, hin zu dem vielen Kleinen im großen Ganzen) und dann unsere innere Haltung dazu. Wir nehmen wahr, sind wach und präsent für alles, was gerade geschieht. Ohne Wertung, ohne Wollen. Diese Haltung können wir schließlich auf unser Leben übertragen, Tag für Tag ein bisschen mehr. Immer, wenn wir bemerken, dass ein Sehnen überhand nimmt und uns blockiert, können wir innehalten und uns fragen: Was übersehe ich gerade neben diesem übergroßen Wollen? Was ist da noch in meinem Leben, genau jetzt in diesem Moment? Und wer weiß, vielleicht lässt das Sehnen nach dem Schön-haben-Wollen dann schon etwas nach, weil es nämlich gar nicht so schlecht ist, wie es gerade ist. Weil das Über-Ding seinen Platz eingenommen hat zwischen all den anderen. Und weil wir eigentlich ziemlich dankbar sind für das, was sonst noch ist. Und dann hätten wir doch mal ganz entspannt ins Goldene getroffen.