HERBST: HELLO | GOODBYE
Wie uns der Herbst das Loslassen lehrt.
Draußen wirbelt der Wind durchs bunte Laub, unter den Bäumen sprießen Pilze und rehbraune Kastanien wandern in Spaziergängertaschen. Ganz klar: Der Herbst ist da. Auch wenn es nun teilweise etwas ungemütlich zugeht, hat die dritte Jahreszeit auch etwas Wunderbares. Nun können wir es uns mit einem guten Buch auf der Couch gemütlich machen, mit dicken Wollpullis und warmen Socken der Witterung trotzen, und auch die heiße Schokolade schmeckt endlich wieder. Die allgemeine „Hyggel“-Tendenz ist dabei kein Zufall, denn der Herbst ist die natürliche Zeit für Rückzug, Aussortieren und Loslassen.
Warum das so ist? Na ja, weil alles in der Natur in Zyklen verläuft, Tag für Tag, Jahr um Jahr. Die Jahreszeiten sind wohl die auffälligsten Vertreter dieses Kreislaufes – und für mich auch die schönsten. Denn hier erleben wir mit allen Sinnen, dass in der Natur (und damit auch bei uns, denn wir sind ja alle ein Stückchen Natur) nichts schnurgerade von A nach B verläuft und dann einfach endet. Alles, wirklich ALLES verwandelt sich immerzu, nichts geht verloren, sondern wandelt nur seine Form. Und gehorcht damit physikalischen Gesetzmäßigkeiten.
Während im Winter alles unter einer (bestenfalls) dicken Schnee- respektive Wolldecke ruht und auf die ersten wärmenden Sonnenstrahlen wartet, bringen diese im Frühling das Neue hervor. Erst brechen zaghaft junge Keimlinge durch die Erde, dann sprießt und grünt es allerorten. Die Natur ist auf Expansionskurs, und auch unsere Lebensenergie steigt merklich an. Der Sommer treibt es dann auf die Spitze: Mal von norddeutschen Schietwetter-Episoden abgesehen, steht nun alles in voller Pracht: Blumen blühen, Früchte reifen, das Leben zeigt sich in seiner ganzen Fülle. Und auch wir spüren die Lebenslust noch mehr als sonst. Alles erscheint irgendwie leichter und fröhlicher, wenn es warm ist. Nun wird es Zeit, diese Fülle einzufangen und haltbar zu machen – die Ernte beginnt, Speicher und Vorratskammern werden für die dunkle Jahreszeit aufgefüllt.
Denn dann, mit der Tag-und-Nacht-Gleiche um den 23. September, kündigt sich der Herbst an. Das mit dem Loslassen nimmt die Natur jetzt wörtlich. Gerade noch präsent, vergeht die Fülle nun quasi minütlich. Mit dem Rückzug der Säfte lassen die Pflanzen ihre Blätter, letzte Blüten und Früchte fallen. Was bleibt und den kalten Winter überdauert, ist das Wesentliche: ein Same, eine Wurzel, ein kahler Stamm oder Strauch. Alles Überflüssige wird abgeworfen, verrottet und dient im nächsten Jahr als fruchtbarer Humus.
Bildquelle: umainstitut.net
Innere Inventur: Was ist meine Essenz?
Wer die Jahreszeiten mit diesem achtsamen Blick wahrnimmt – was früher selbstverständlich war, denn man lebte ja viel enger mit der Natur verwoben – der kann sie auch heute noch als eine Art Kompass nutzen, der durchs Jahr navigiert. Für den Herbst bedeutet das eben, dass man sich nun mit Fug und Recht etwas mehr zurückziehen und eine Art innere Inventur machen darf. Was ist im bisherigen Jahresverlauf in mir gewachsen? Für welche „Ernten“ bin ich dankbar? Was darf in meinem inneren Speicher überwintern? Und auch: Wem oder was bin ich entwachsen? Was passt nicht mehr in mein Leben und darf nun gehen?
Es geht dabei nicht um ein trotziges „Mach das weg!“, das uns manchmal in den Sinn kommt, wenn etwas schmerzt, belastet, nervt. Die innere Inventur ist eher eine liebevolle Bestandsaufnahme: Was ist mir wirklich wichtig? Und was ist es nicht mehr? Ihr erinnert Euch: Alles wandelt sich immerzu. Und alles, was wir hinter uns lassen, wird nahrhafter Boden für etwas Neues sein. Je bewusster wir uns diesen Umstand machen, um so weniger werden wir versuchen, an etwas festzuhalten, das sich nicht festhalten lässt. „Wenn Du merkst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab“ sagten schon die amerikanischen Ureinwohner. Wenn Du merkst, dass etwas nicht mehr in Dein Leben gehört, lass es gehen. Verabschiede es mit Liebe und Dankbarkeit, vielleicht mit Wehmut und Trauer – und dann lass es gehen. Du wirst sehen, wie sehr Dich diese „Leere“ befreien und bereit machen kann für das Neue, das nach dem Winter wachsen darf.
Land Art fürs Loslassen
Eine passende herbstliche Übung in und mit der Natur ist der Bau von Steinmännchen. Die Türme oder Häufchen aus Steinen und anderen Naturmaterialien dienen seit Menschengedenken und in allen Teilen der Welt als archaische Wegmarkierungen und zum Schutz für Wanderer. In unserem Fall symbolisieren sie die Dinge, die wir nicht mehr mit uns herumtragen möchten. Und so geht’s:
- Finde einen schönen Ort in der Natur, etwa eine Lichtung, einen Hügel, ein Ufer o. ä.
- Stimme Dich auf deine innere Inventur ein: Was ist gewachsen? Was darf bleiben? Was darf gehen?
- Schaue Dich um und wähle Naturmaterialien, die als Sinnbild für Deine Antworten auf die dritte Frage stehen. Steine, Äste, Zapfen, Federn, Muscheln… bitte nimm nur solche Dinge, die sich ohne Gewalt bewegen lassen.
- Lege Deine Natursymbole ganz Deiner Intuition folgend auf- und umeinander und spüre im Moment des Ablegens, welches Gewicht Du an die Erde abgibst.
- Baue so lange an Deinem Kunstwerk weiter, bis Du spürst, dass es nun genug ist.
- Verweile noch ein bisschen, bewundere Dein Werk und nimm Abschied von allem, was Du damit symbolisch hinter Dir lässt – und gehe dann etwas leerer und leichter weiter durch den Kreislauf Deines Lebens, um bald Neues erblühen zu lassen.
Ich wünsche Dir viel Freude bei Deiner „Inventur“.